Der Zuschauer als Spielball

Das Tanzensemble “Los Mismos” spielt mit Publikumserwartungen

Von Mirka Borchardt


“Sopla”, das bedeutet wörtlich übersetzt “Pusten”, kann aber auch ein Ausruf des Erstaunens sein. Die Doppeldeutigkeit des Stücks “Sopla” des Tanzensembles “Los Mismos”, das im letzten Jahr an verschiedenen Spielstätten in Buenos Aires auftrat und vergangene Woche im Teatro Timbre 4 gastierte, ist also schon im Titel festgeschrieben. Ob “Pusten” oder “Hoppla”, das muss der Zuschauer am Ende selbst entscheiden, genauso wie die Antwort auf die Frage, ob man sich gerade tatsächlich eine Tanzperformance angeschaut hat oder bloß Zeuge einer Probe war, oder ob man, wie es in der Ankündigung heißt, gerade eine “improvisierte Begegnung” hatte.

Am Anfang sind drei Frauen und ein Mann auf der Bühne, sie tanzen scheinbar ohne Choreographie, manchmal zusammen, manchmal völlig asynchron. Kleine, unvollendete Geschichten werden auf der Bühne erzählt, Choreographien werden begonnen und wieder abgebrochen, manchmal wuseln die Tänzer chaotisch durcheinander, manchmal halten sie inne und bilden ein Standbild, dann wieder tanzt einer von ihnen ein Solo. Und langsam wird klar, dass es doch eine einheitliche Choreographie gibt: Die Abläufe wiederholen sich, einmal, zweimal, dreimal, viermal. Plötzlich betritt eine vierte Frau den Raum, mit einer Torte in der Hand und schuldbewusstem Gesicht. Der Bann ist gebrochen, die Stille und Konzentriertheit der letzten 20 Minuten sind vorbei. Die Tänzer tanzen zwar weiter, doch jetzt unterhalten sie sich dabei; die zuletzt Hereingekomme kennt die Abläufe nicht, der Mann muss sie ihr erklären, Anweisungen werden durch den Raum gerufen. Ganz klar: eine Probe, keine Aufführung.

Oder doch nicht? Plötzlich ertönt Musik: Ein Stück von Vivaldi, und ein zweiter Mann, der bis dahin unscheinbar am Bühnenrand saß, beginnt zu tanzen, er tanzt ein Solo, er tanzt großartig, mit starkem Körperausdruck, in grünem Schweinwerferlicht – ein ungeheuer dramatischer Moment. Wären da nicht die anderen, die seine Tanzeinlage als Pause nutzen, Wasser trinken und Kekse essen und sich den Schweiß von der Stirn wischen. Vielleicht, so denkt man sich, vielleicht sollte man “Sopla” ganz anders übersetzen, nämlich mit “Pustekuchen”. Denn gerade als der Zuschauer beginnt, sich hineinziehen zu lassen in das Geschehen auf der Bühne, wird er wieder herausgerissen. Eine kleine Bewegung, ein Wort nur macht klar: das hier ist bloß eine Show. Und die “improvisierte Begegnung” ist eine Begegnung mit der manipulativen Macht der darstellenden Künste: “Los Mismos” zeigen, dass der Zuschauer ein Spielball ist in den Händen der Künstler, die ihn dazu bringen können, sich im Bühnengeschehen zu verlieren und ihn genauso schnell wieder auf den Boden der Realität stellen.

Nächste Vorstellungen: 3. März, 21.30 Uhr, El Club del Teatro, Mar del Plata; 14. und 21. April, 21 Uhr, Café Müller, Lavalleja 1116, Buenos Aires.

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