Deutsche Gäste auf der Buchmesse

Lesungen der Autoren Sebastian Fitzek und Kristof Magnusson

Von Susanne Franz

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Einen deutschen Stand sucht man in diesem Jahr auf der 41. Internationalen Buchmesse von Buenos Aires vergeblich. Doch dafür gab es bereits an den ersten Messetagen schon einige Gäste aus Alemania. Wie jedes Jahr besuchte Jürgen Boos, der Leiter der weltgrößten Bücherschau, der Frankfurter Buchmesse, die “Feria del Libro” in Argentiniens Hauptstadt. Am zweiten Messetag, dem 24. April, fand eine Lesung des deutschen Autors Kristof Magnusson statt, den wir schon in einem Interview vorgestellt haben. Und am Sonntag beglückte der deutsche Bestsellerautor Sebastian Fitzek, der wegen seiner psychologischen Thriller der “Stephen King Deutschlands” genannt wird, seine Fans in Argentinien. Fitzek, der 12 Millionen Bücher weltweit verkauft hat, schrieb bisher 11 Bücher, 5 davon sind ins Spanische übersetzt. Viele seiner Fans hatten alle dabei, als es nach der Lesung ans Signieren ging.

Magnusson im Gespräch mit Ariel Magnus

Von den Büchern Kristof Magnussons, der auf Einladung der deutschen Botschaft und des Goethe-Instituts auf der Buchmesse weilte, gibt es bisher noch keine Übersetzungen ins Spanische. Allerdings ist der Autor in Verhandlungen über eine mögliche Übersetzung seines jüngsten Werkes “Arztroman”, das er im Gespräch mit dem argentinischen Schriftsteller und Journalisten Ariel Magnus am Freitagabend vorstellte. Leider hatten nur wenige Leute den Weg in den Alfonsina-Storni-Saal gefunden, was auch daran gelegen haben mag, dass zeitgleich eine Veranstaltung des in Argentinien hoch angesehenen Spaniers Arturo Pérez-Reverte, der die Messe am Vortag eröffnet hatte, stattfand.

Für die Anwesenden war es ein schöner und bereichernder Abend. Ariel Magnus las einige Stellen aus dem “Arztroman”, die er ins Spanische übertragen hatte, und stellte Kristof Magnusson im Anschluss Fragen. Auch das Publikum wollte einiges von ihm wissen, über den Unterschied im Schreiben als Autor von Theaterstücken bzw. Romanen oder wie er sich im Chaos der Neu-Publikationen zurechtfindet. “Ich lese oft Bücher, die mir Freunde empfehlen“, sagte Magnusson dazu. „Das hat auch den Vorteil, dass ich im Anschluss jemanden habe, mit dem ich über das Buch sprechen kann.” Der Halb-Isländer verriet auch, dass er als Übersetzer ein besserer Mensch sei denn als Autor. “Als Übersetzer muss ich die Charaktere und die Umstände, die ich vorfinde, so hinnehmen und akzeptieren, wie sie sind“, sagte er. „Wenn ich selbst schreibe, streiche ich auch schon mal eine Person ganz raus – ich bin also dann eher ein Menschenfeind.”

Fitzek wurde von seinen Fans gefeiert

Sebastian Fitzeks Lesung am Sonntag um 16 Uhr war auf Englisch. Der Literaturkritiker Máximo Soto, Fitzeks Gesprächspartner, hatte sich im Vorfeld Sorgen wegen des Termins gemacht, da an diesem Tag die Vorwahlen in der Hauptstadt stattfanden. “Aber dann habe ich in den sozialen Netzwerken EUCH gesehen”, sagte er mit Blick auf das durchweg junge, zahlreich erschienene Publikum im Victoria-Ocampo-Saal, das sich vor Aufregung kaum auf den Sitzen halten konnte. “Und da wusste ich, die Veranstaltung würde ein Knaller!” Wurde sie, denn Sebastian Fitzek hat glühende Fans in Argentinien. “Sebastian, Du inspirierst mich!” – “Danke für Deine Bücher!” – “Danke, dass Du endlich einmal nach Argentinien gekommen bist!” – “Wann erscheint Dein nächstes Buch (“Pasajero 23″) in Argentinien?” Auf die Antwort “Im Dezember” folgte großer Jubel im Publikum. “Schreibst Du gerade etwas Neues?” “Ja”, sagte Fitzek und machte den Zuhörern auch gleich den Mund wässrig, indem er die spannende Handlung seines nächsten Werkes kurz umriss.

Der Bestsellerautor wurde in Buenos Aires mit offenen Armen aufgenommen, und von Anfang an stimmte die Chemie in dem Gespräch zwischen Máximo Soto, Fitzek und der kompetenten und frischen Übersetzerin, die den Ton des Autors immer richtig traf. Fitzek kommunizierte mit seiner Fangemeinde eher wie ein charismatischer Rockstar als ein “normaler Schriftsteller”. Es wurde viel gelacht und geklatscht, jede Frage wurde mit Respekt und Ehrlichkeit und viel Humor beantwortet. Auch im Anschluss hatte Sebastian Fitzek eine Engelsgeduld mit der mindestens zweistündigen Schlange seiner Fans vor dem Stand des Verlages “Ediciones B”, wo er sein neuestes auf Spanisch erschienenes Werk “Noah” – und die mitgebrachten älteren Bücher – signierte. Für jeden Fan hatte er ein Lächeln, mit jedem sprach er persönlich ein paar Worte und mit jedem wurden Fotos gemacht.

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Sebastian Fitzek (Mitte) bei seiner Lesung auf der Buchmesse in Buenos Aires. Das Foto steht auf Fitzeks spanischer Wikipedia-Seite, die erst seit seinem Besuch in Argentinien existiert.
(Foto: Fedefede1996)

“Da hatte ich mehr Glück als Verstand”

Interview mit Nicolás Aponte Aragón Gutter, der für seinen Film “Idilio” eine spezielle Erwähnung im BAFICI-Wettbewerb “Argentinischer Film” erhalten hat

Von Michaela Ehammer

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Liebeskummer gehört zum Leben. Ein jeder hat es schon mindestens einmal erlebt, wie es ist, verliebt zu sein, auf Wolken zu schweben und das Leben durch die “rosarote Brille” zu sehen. Verbunden dann mit dem dumpfen Gefühl in der Magengrube und den Kopfschmerzen in der Nacht, nachdem man verlassen wurde.

Der argentinische Regisseur und Dozent an der UBA Nicolás Aponte Aragón Gutter greift in “Idilio” genau diese banalen, doch stets präsenten Dinge in unserem Leben auf und hat es in ein filmisches Meisterwerk gepackt. In einem Interview erzählt der sympathische Argentinier wieso:

ME: Am Ende des Films stellte sich mir sofort eine Frage, gab es ein konkretes Drehbuch oder sind die Dialoge aus dem Stegreif entstanden?

Nicolás (lächelt schüchtern): Also ein Drehbuch gab es in dem Sinn nicht. Ich hatte mir zwar bestimmte Dialoge überlegt, doch Paula Carruega und Manuel Novoa, meine beiden Schauspieler, redeten bei den Drehs dann einfach drauflos. Ihre Aussagen gefielen mir besser, daher kann ich jetzt im Nachhinein nicht behaupten, für das Drehbuch verantwortlich gewesen zu sein.

ME: Wie kam die Idee?

Nicolás: Ich wollte etwas Simples machen, das alle betrifft. So kam ich auf die Idee mit der Liebe. Dann habe ich Ende letzten Jahres mein Projekt gestartet und wie soll ich sagen, es wurde rein zufällig gerade rechtzeitig fürs BAFICI fertig. Da hatte ich mehr Glück als Verstand.

ME: Die Musik in Ihrem Film ist grandios gewählt. Ich kann mir denken, dass dies jedoch nicht ganz einfach war?

Nicolás: Oh ja, die perfekten Lieder für den Film zu suchen, war bei Gott nicht einfach und für mich eines vom Schwersten, denn es gibt Millionen von diesen Liebesliedern. Aber jetzt am Ende bin ich ganz zufrieden mit meiner Auswahl.

ME: Wie lange haben Sie für die Dreharbeiten gebraucht?

Nicolás: Nun ja, die Charaktere besprochen haben wir oft und lange. Besonders Paula musste sich total in ihre Figur Camila hineinversetzen, schließlich war die Situation ja fiktiv. Gefilmt wurde dann jedoch nur an sieben Tagen in einem Zeitraum von etwa zwei Monaten.

ME: Noch eine Frage am Ende, Ihre Darsteller Paula und Manuel wirken in ihren Dialogen sehr vertraut. Hat sich da während der Dreharbeiten etwa ein Liebespaar gefunden?

Nicolás (lacht): Das ist eine gute Frage, die ich mir auch bereits gestellt habe. Aber ich denke, diese Frage können uns nur die beiden beantworten.

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Paula Carruega in “Idilio” (2015).

Mit Blaulicht nach Buenos Aires

Kristof Magnusson stellt heute Abend auf der Buchmesse sein Werk “Arztroman” vor

magnusson_kratz2Der deutsche Schriftsteller Kristof Magnusson weilt anlässlich der 41. Internationalen Buchmesse von Buenos Aires und auf Einladung der deutschen Botschaft in Buenos Aires und des Goethe-Instituts zum ersten Mal in Argentinien. Der 1976 in Hamburg als Sohn eines Isländers und einer Deutschen geborene Schriftsteller, der heute in Berlin lebt, ist nebenbei Übersetzer aus dem Isländischen. In seinem neuesten Erfolgsbuch “Arztroman” schildert er das turbulente Leben einer Notärztin in Berlin. Im Interview mit Kunst in Argentinien-Herausgeberin Susanne Franz gab er Einblicke in sein schriftstellerisches Schaffen und erzählte u.a., wie er für die Recherche zu seinem Roman in Rettungswagen mitgefahren ist.

SF: Herr Magnusson, Sie stellen heute Abend auf der Internationalen Buchmesse von Buenos Aires Ihr Werk “Arztroman” vor. Freuen Sie sich auf Ihre erste Begegnung mit dem argentinischen Lesepublikum?

Kristof Magnusson: Das auf jeden Fall, ja, es ist wirklich immer eine besonders schöne Art und Weise, ein Land kennenzulernen – nicht nur da zu sein als jemand, der irgendwelche Sehenswürdigkeiten besichtigt – was natürlich auch schön ist -, aber es ist immer besonders schön, wenn man die Möglichkeit,hat, die Leute gleich kennenzulernen über einen gemeinsamen Austausch. Ich habe das schon oft gemacht, in vielen Ländern, in Indien, in Griechenland, in Portugal, oder in Schweden oder Amerika, es ist eine ganz besonders gute Art und Weise, Land und Leute kennenzulernen.

SF: Sie sprechen heute mit dem argentinischen Schriftsteller und Journalisten Ariel Magnus über Ihren Roman; er hat Passagen Ihres Werkes ins Spanische übersetzt. Wird er auch den gesamten Roman übersetzen und wird dieser hier erscheinen?

Kristof Magnusson: Das ist gerade in Arbeit, es gibt auf jeden Fall Interesse, es gibt noch nichts, was spruchreif ist, aber das Interesse ist auf jeden Fall erst mal da. Ob Ariel Magnus das Buch übersetzt, hängt sicher von dem Verlag ab und von dem Zeitplan, er ist ja ein vielbeschäftigter Mann. Ich würde mich freuen, aber er muss natürlich gucken, ob er Zeit hat.

SF: Sie sind halb Isländer, halb Deutscher. Sie übersetzen Literatur aus dem Isländischen ins Deutsche, schreiben selbst aber lieber auf Deutsch. Warum ist das so? Liegt es an den Besonderheiten der beiden Sprachen?

Kristof Magnusson: Das hat wirklich den ganz profanen Grund, dass Deutsch meine Muttersprache ist. Ich habe zwar fünf, sechs Jahre in Island verbracht, habe da auch studiert, aber aufgewachsen bin ich die meiste Zeit in Deutschland, und bin auch nie in Island zur Schule gegangen, was ja auch für den Spracherwerb eine sehr wichtige Phase ist, dieses mit den Gleichaltrigen zusammen aufwachsen, eine Sprache sprechen, und das Abgleichen mit der Sprache, die die Lehrer und die Erwachsenen sprechen – diese Reibung ist sehr wichtig dafür, dass man auch Subtilitäten darstellen kann, und das habe ich im Deutschen viel viel mehr als im Isländischen. Ich habe sozusagen mehr verschiedene Register, die ich ziehen kann auf Deutsch. Deswegen könnte ich das gar nicht, auf Isländisch. Ich übersetze auch nie aus dem Deutschen ins Isländische, sondern immer nur aus dem Isländischen ins Deutsche.

SF: Ihr Werk “Arztroman” ist in Deutschland ein großer kommerzieller Erfolg. Glauben Sie, dass das auch damit zu tun hat, dass Sie darin das Phänomen Burnout ansprechen, das ein universelles Problem der heutigen Zeit ist?

Kristof Magnusson: Ich finde das immer schwer, das zu sagen. Ich hoffe das, weil das eine Sache ist, die mir wichtig ist. Ich hoffe aber natürlich, dass die Leute diesen Roman auch deswegen gerne lesen aufgrund der humorvollen und unterhaltsamen Komponenten, also, obwohl es ja auch um das medizinische Milieu geht, Krankheit natürlich auch, soll es kein “Problembuch” sein in dem Sinne, sondern einfach ein Buch, das Lebenswelten in Berlin und teilweise auch ein Gesellschaftsporträt zeigt, was gewisse “Probleme” zwar thematisiert, ohne das jetzt auf eine dramatische Art und Weise zu tun. Eher auf eine leichte, humorvolle Weise. Deshalb hoffe ich, dass das ein Aspekt der Wahrnehmung ist, aber hauptsächlich sind es einfach diese spannenden Geschichten, die sich in einer Großstadt heutzutage abspielen, ich hoffe, dass das die Leute genauso interessiert.

SF: Also geht es eher darum, wie die Menschen mit ihrer jeweiligen Situation umgehen.

Kristof Magnusson: Genau, und manchmal gelingt es den Leuten, positiv oder humorvoll damit umzugehen, und manchmal gelingt es ihnen nicht, genauso wie es bei uns im Leben ja auch ist. Wir bestehen ja nicht nur aus positivem Denken, das funktioniert einfach nicht, und manchmal kommen wir nicht gegen die Probleme an, aber manchmal gelingt es uns dann wiederum doch.

SF: Sie haben sehr viel recherchiert zu ihrem Werk, Sie haben Freunde und Bekannte, die Ärzte sind, Sie sind auch selber mitgefahren in den Rettungswagen, um ganz lebendig schildern zu können, wie der Alltag Ihrer Heldin des Romans aussieht. War das eine spannende Herausforderung für Sie? Oder teilweise auch bedrückend? Wie lange haben Sie recherchiert?

Kristof Magnusson: Die Recherche hat sicherlich länger als ein halbes Jahr gedauert, weil ich auch immer recherchiert habe und dann geschrieben habe und dann wieder zur Recherche zurückgegangen bin. Die Gespräche mit den Ärzten, das war ein Teil, der mich sehr lange begleitet hat, und was natürlich interessant ist, ist, dass ja eigentlich sozusagen die Frage dahintersteckt, es gibt eine Welt, die man beschreiben möchte und dann ist die Frage, wie ist diese Welt mit ihren Eindrücken und wie wird daraus dann Text. Das ist ein Weg, den man sonst immer mit sich selber ausmacht, und jetzt waren da diese Ärzte dabei, denen ich auch Sachen zum Lesen gegeben habe, die haben dann gesagt “Ja, hier, da könnte man noch das machen, das wär noch spannender” oder “Hier, das stimmt so nicht”, also dieser Prozess, der sonst bei meinen Büchern immer ein sehr intimer Prozess war, da hatte ich diesmal auf einmal diese “Gegenüber”, das hat es für mich interessant gemacht.

Bei den Malen, bei denen ich mitgefahren bin mit den Notarztwagen, das war natürlich sehr, sehr aufregend, am Anfang habe ich gedacht, ich störe, oder ich stolpere über den Sauerstoffschlauch, es brauchte eine Weile, bis die Ärzte und Feuerwehrleute mir diese Angst genommen haben. Das war für mich sehr wichtig, diesen ganzen Alltag zu sehen, weil Recherchegespräche sind eine Sache, und dass es medizinisch stimmt, kann man alles recherchieren, aber da gibt es diese verrückten Details wie zum Beispiel, dass die Menschen sich die Ohren zuhalten, wenn man mit dem Rettungswagen vorbeifährt, und das ist eine Sache, das muss man gesehen haben. Oder dass man oft gar nicht weiß, dass man mit Blaulicht unterwegs ist, aber wenn man dann durch eine enge Straße fährt, sieht man auf einmal, wie sich das spiegelt. Oder man fährt über Kopfsteinpflaster und spürt dieses Vibrieren, diese zwei Tonnen Ausrüstung, die man hinter sich hat. Für solche Sachen war es wichtig, mitzufahren.

SF: Sie haben einmal gesagt, dass sozusagen vor dem Notarzt alle Menschen gleich sind – die Reichen, die Armen, die Alten, die Jungen, so dass Sie durch Ihre Recherchen Einblick in ein gesamtes Gesellschaftsbild gewinnen konnten.

Kristof Magnusson: Ja, das war mir wichtig und natürlich der Reiz daran, eine Ärztin zu haben, die zu den Menschen nach Hause kommt, dass sie überall hineinkommt und niemand kann vorher aufräumen. Das hat man in Krankenhäusern und Arztpraxen nicht so, die haben meist ein bestimmtes Klientel, ärmer oder reicher. Diese große Bandbreite, die hat man im Notarztdienst natürlich sehr stark, und das heißt, es lässt sich so auf eine relativ – wie ich finde – elegante Weise ein Porträt der ganzen Gesellschaft zeigen.

SF: Was möchten Sie mit dem Schreiben erreichen? Möchten Sie Ihre Leser unterhalten, sie glücklich machen? Möchten Sie die Leser zum Nachdenken anregen bzw. in ihnen eine Veränderung bewirken?

Kristof Magnusson: Das kann ich gar nicht so genau sagen. Was ich erst mal machen möchte, ist Geschichten erzählen, die mich selber interesieren, weil alles andere ist so zufällig, ob das nun Menschen interessiert oder nicht, oder glücklich macht oder nicht. Ich kann immer nur davon ausgehen, dass ich schon Bücher gelesen habe, die mich verändert haben, ich habe auch Bücher gelesen, die mich glücklich(er) gemacht haben, aber ich glaube, man kann sich das als Autor nicht von vornherein vornehmen, Man kann von sich selber ausgehen und dann hoffen, dass es andere Leute auch interessiert. Ich merke das auch bei mir selber, wenn ich die Bücher von anderen Autoren lese, das Thema muss mich nicht unbedingt interessieren, über das sie schreiben, aber ich muss das Gefühl haben, das hat den Autor interessiert, nicht mit einem bestimmten Ziel, sondern aus einem inneren Antrieb heraus. Und das ist bei mir mit dieser Welt der Medizin eben ganz stark, das ist etwas, was mich schon als Kind immer begeistert hat, und irgendwie ist meine Aufmerksamkeit an diesem Thema hängengeblieben. Dann kam dazu, dass es ja eine gewisse Relevanz für die Gesellschaft hat – ein Gradmesser dessen, wie wir unsere Gesellschaft haben wollen, ist ja, wie wir unser Gesundheitssystem organisieren. So ist zu meiner emotional unerklärlichen Begeisterung noch ein vernunftgetragener Grund hinzugekommen.

SF: Noch eine Frage zu Ihrem Schreiben: Sprudelt es aus Ihnen heraus oder müssen Sie sehr streng mit sich sein und sagen, ich schreibe jetzt vier Stunden am Tag? Wie machen Sie das, ist das eher eine Disziplinfrage? Denn Schreiben ist ja schwer.

Kristof Magnusson: Natürlich ist es schwer, das wissen wir ja alle. Ich schreibe sehr viel, das Schwierige oder wo die Disziplin ins Spiel kommt, ist einfach, die guten Ideen von den schlechten zu unterscheiden. Dieser Roman (er tippt auf seinen “Arztroman”, der auf dem Tisch liegt) war sicherlich am Anfang dreimal so lang. Ihn zu überarbeiten, immer weiter zusammenzukürzen, das zu tun, was eigentlich auch Dichtung ist, also das Ver-Dichten, dass man aus den ganzen Beobachtungen die paar herausfiltert, die nicht nur etwas beschreiben, sondern darüber hinaus für etwas stehen. Also eher eigentlich beides: erst dieses Sprudeln, aber damit ist noch nicht mal die Hälfte getan, das ist noch nicht mal die halbe Miete – die eigentliche Arbeit ist das Überarbeiten.

SF: Es ist sicher auch nicht einfach, den Moment zu bestimmen, an dem das Buch “fertig” ist.

Kristof Magnusson: Absolut, und ich glaube, solange ich Lesungen mache und mich mit Leuten über das Buch unterhalte und immer noch wieder jemand einen neuen Aspekt anspricht und sagt “Das fand ich interessant und das fand ich nicht so interessant”, solange ist das Buch für mich auch nicht fertig, weil das Buch entsteht ja immer wieder. Also das Buch ist ja nur zu einem Teil wirklich dieses physische Produkt (er klopft wieder auf den “Arztroman”) – zu einem großen Teil ist es auch das, was in den Köpfen der Leute passiert, nicht nur, wenn sie es lesen, sondern auch, wenn sie darüber sprechen.

SF: Herr Magnusson, vielen Dank für das Gespräch!

Heute: Lesung
Heute, Freitag, 24. April, um 18.30 Uhr: “Arztroman” – Lesung und Gespräch mit Kristof Magnusson und Ariel Magnus. Veranstaltet von der deutschen Botschaft in Buenos Aires, dem Goethe-Institut Buenos Aires und der Fundación El Libro. 41. Internationale Buchmesse Buenos Aires, Saal Alfonsina Storni, La Rural, Plaza Italia, Buenos Aires. Deutsch mit Konsekutivübersetzung.

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Bestsellerautor Kristof Magnusson (rechts) und Kulturattaché Michael Kratz vor Alfredo Segatoris Berlin-Graffiti an der Außenwand der deutschen Botschaft in Buenos Aires.
(Foto: Deutsche Botschaft)

Der Himmel wird zur Tango-Bühne

Cai Guo-Qiang begeisterte 200.000 Zuschauer mit beeindruckendem Feuerwerk

Von Jannik Jürgens

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Der chinesische Künstler Cai Guo-Qiang verwandelte am Samstagabend den Himmel über La Boca in eine einzigartige Tango-Show. Unter dem Titel “Das Leben ist eine Milonga. Tango und Feuerwerk für Argentinien” begeisterte Guo-Qiang mit über 43.000 Feuerwerkskörpern und einem Orchester die Zuschauer. Nach offiziellen Angaben kamen über 200.000 Menschen nach La Boca, um die Performance zu sehen.

Schon auf dem Weg wird klar, dass heute abend etwas Besonderes passiert. Die Busse sind brechend voll und auf den Straßen herrscht ein Verkehr wie sonst nur bei Spielen der Boca Juniors. Irgendwann geht nichts mehr, die Menschen lassen das Auto stehen und gehen zu Fuß zum Hafen. Dort warten viele schon seit Stunden auf das Spektakel. Sie haben die besten Plätze reserviert, ganz nah am Wasser, um auch die Reflexionen des Feuerwerks sehen zu können.

Um kurz vor acht steigt die Spannung. Gleich soll es losgehen. Doch dann die Enttäuschung: Der Beginn des Feuerwerks wird um eine Stunde nach hinten verschoben. Buh-Rufe quittieren die offizielle Ansage. Dann kommt endlich Cai Guo-Qiang ans Mikrofon. Auf Mandarin kündigt er das Feuerwerk an. Die Übersetzerin kommt ihm zu Hilfe: “Fünf, vier, drei, zwei, eins, null.” Gebannt schauen die Menschen in den Himmel, einige halten den Atem an. Ein ohrenbetäubender Knall. Mit einer großen Explosion beginnt das Feuerwerk, gespenstische Rauchschwaden ziehen durch den Hafen. Dann erklingen die ersten Takte von “La Cumparsita”, erst leise, dann lauter. Zeitgleich steigen Raketen in den Himmel, harmonisch abgestimmt mit der Musik. Die blauen und weißen Feuerwerkskörper stellen die Tänzer da, die silbernen und goldenen Lichter den Korpus des Akkordeons.

Cai Guo-Qiang lässt die Geschichte des Tangos als Feuerwerk Revue passieren. Das Orchester liefert die passende Musik. Als zweites Stück kommt “Felicia”. Weiße Girlanden und schwarze Blitze lassen Erinnerungen an den Beginn des Tangos erwachen. Damals wurden die Tänzer im Fernsehen in schwarz-weiß gezeigt. Insgesamt hat Guo-Qiang seine Performance in vier Tango-Epochen eingeteilt: Von 1890 bis 1943, von 1943 bis 1955, von 1955 bis 1983 und von 1983 bis heute. In den Pausen des Feuerwerks kommentiert er das Geschehen: “Heute ist eine unbeschreibliche Nacht. Jetzt möchte ich, dass Sie Tango tanzen.” Das Orchester spielt und einige Zuschauer kommen der Aufforderung nach. Vorsichtig tanzen sie in der Menschenmasse, es ist ein Tango auf dem Bierdeckel.

Nach einem Electrotango-Feuerwerk kommt es zum großen Finale. “Volver al sur” ist der Höhepunkt und stellt alles andere in den Schatten. Das Feuerwerk zeichnet sanfte Bewegungen in den Nachthimmel und die Musik harmoniert perfekt mit den Explosionen. Die Raketen erreichen eine Höhe von 180 Metern. Den Schluss bildet eine Kaskade von weißen Explosionen, und für einen Moment ist ein riesiges Akkordeon über dem Hafen zu sehen. Später sagt der Kommentator, es sei 180 mal 60 Meter groß gewesen.

So beeindruckend das Feuerwerk ist, so vergänglich ist es auch. Guo-Qiangs Bilder sind da langlebiger. In der Proa-Stiftung, die Guo-Qiang zusammen mit der Kulturabteilung der Stadt nach Buenos Aires holte, sind seine Schießpulver-Bilder ausgestellt. Guo-Qiang hat seine eigene Technik für die Werke konzipiert. Auf Videos, die den Entstehungsprozess zeigen, kann der Besucher diese Technik nachvollziehen.

Am Anfang steht die Recherche: Guo-Qiang reist an den Ort, den er malen will. In Argentinien war er unter anderem an den Iguazú-Wasserfällen und in der Wüste. Dort beginnt der kreative Prozess. Cai zeichnet, fotografiert die Landschaft und lässt sich von lokaler Kunst inspirieren. Dann entwickelt er sein Werk. In der Werkstatt trägt er das Schießpulver auf vorher gezeichnete Flächen auf. Von Pappe abgedeckt, wird das Pulver gezündet. Unmittelbar danach muss das Feuer erstickt werden – und das Werk ist fertig. So ist Guo-Qiangs Kunst zwar durchgeplant, doch die Explosion hat immer etwas Unvorhersehbares. Jedes Werk ist ein Stück weit Unfall und Improvisation.

Guo-Qiang hat auch das Feuerwerk für die Olympischen Spiele in Peking gemacht. Seine Kunst ist nicht politisch, wie die des im Westen gefeierten Ai Weiwei. Guo-Qiang ist keiner, der Kritik an China äußern würde. Er will mit seiner Kunst Menschen begeistern und an die Traditionen ihres Landes erinnern. In La Boca ist ihm das gelungen.

Foto:
Cai Guo-Qiang ließ die Geschichte des Tangos als Feuerwerk Revue passieren.
(Cultura BA)

Das Spektakel auf Youtube.

Werke von Edith Matzen Hirsch in Hamburg

“Künstlerbücher und Boten” in der Staats- und Universitätsbibliothek

edithSeit dem 15. Januar und bis zum 29. März wird in der Staats- und Universitätsbibliothek in Hamburg die Ausstellung “Künstlerbücher und Boten” mit Werken der in Argentinien lebenden, in Deutschland geborenen Künstlerin Edith Matzen Hirsch gezeigt. Bei der Eröffnung sprachen Antje Theise, Referentin für Seltene und Alte Drucke der Stabi, der Kurator der Ausstellung, Rodolfo Agüero, und die Künstlerin selbst.

Über ihre Arbeit sagt Edith Matzen Hirsch: “Dass ich 1938 in Bollingstedt in Schleswig-Holstein geboren wurde und 1950 nach Argentinien emigriert bin, hat für mich eine große Bedeutung. Seit Antritt dieser Reise trage ich in meinem Gepäck den unerschöpflichen Schatz der schönen deutschen Sprache, ihrer Literatur, Poesie und Musik mit mir; aber ebenso die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. Mit meinem Werk betrete ich die Welt der Symbole. Dadurch wird es mir möglich, in metaphorischer Weise meine Ideen und Erfahrungen zu materialisieren.

Ich zeige in der Ausstellung einige Beispiele aus meinem Werk, die mir die Gelegenheit geben, nicht nur mit dem Wort zu arbeiten, sondern darüber hinaus meine Ideen auf verschiedenen Trägern und unterschiedlichen Materialien zu entfalten. Dafür habe ich Arbeiten ausgewählt, die seit dem Jahr 1996 entstanden sind. Sie beginnen an einem Punkt und entwickeln sich wie eine Spirale bis in die Gegenwart.

Eine meiner Inspirationsquellen sind diejenigen Menschen, die Solidarität in die Tat umsetzen. Der Zufall hat mir ermöglicht, in zwei verschiedenen Kulturen zu leben. Dadurch wird mein persönliches Universum erweitert und es gibt weder geografische Grenzen noch Schranken in meiner Phantasie.”

Die sanften Bilder eines Giganten

Hamburger Kunsthalle zeigt als Weltpremiere Stillleben des großen deutschen Malers Max Beckmann

Von Nicole Büsing und Heiko Klaas

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Max Beckmann (1884-1950) steht für Gemälde voller Wucht und Kraft: für Selbstporträts im Smoking und mit dicker Zigarre, für die zeitlose Bearbeitung mythologischer Themen und für die malerische Bewältigung grandioser Küstenlandschaften und fulminanter Großstadtszenen. Ein künstlerischer Grenzgänger, der 1937 in Deutschland als „entartet“ gebrandmarkt, ins Amsterdamer Exil ging und gerade auch im Ausland als einer der wichtigsten Repräsentanten einer von humanistischen Idealen geprägten deutschen Kunst steht.

Seine Landschaften, Selbstporträts und Figurenbilder sind immer wieder in groß angelegten Ausstellungen und Retrospektiven gezeigt worden. Seine Stillleben jedoch, die eine ganz andere Seite seines facettenreichen Werks repräsentieren, waren international noch nie in konzentrierter Form zu sehen. Mit der Ausstellung “Max Beckmann. Die Stillleben” widmet die Hamburger Kunsthalle diesem lange vernachlässigten Werkaspekt jetzt eine große und faszinierende Schau. Für Karin Schick, die Kuratorin der Ausstellung, ist Max Beckmann nicht weniger als “ein Block, ein Achtzehnender, mit dem man ringt”. Insgesamt 70 Gemälde und einige Aquarelle hat sie für die Hamburger Präsentation ausgesucht.

Beckmann2Herausgekommen, so Schick, ist “eine Retrospektive im Kleinen, die die Entwicklung seiner Malerei ablesbar macht”. Max Beckmann hat, beginnend mit seinem Umzug nach Berlin um 1904/1905 bis zu seinem Tod in New York, immer wieder auch Stillleben gemalt. Auf diesen Bildern entdeckt der Betrachter komplexe, mal durchdacht, mal aber auch spielerisch und leicht wirkende Arrangements aus Blumen, Obst, Gemüse, Fischen, Weingläsern, Büchern, Zeitungen, Uhren, dekorativen Objekten aus der Natur und oftmals kultisch aufgeladenen Kunstgegenständen aus dem privaten Fundus des Malers.

Das Besondere an der Schau: Etliche der auf den Bildern dargestellten Objekte, so ein Tongefäß mit Schlangenmotiv aus Peru, ein Zeremonialgefäß aus dem Grasland Kameruns, ein chinesisches Räuchergefäß in Form einer Kröte und eine große Muschel aus der Karibik, die Beckmann immer wieder gemalt und zu animalischer Größe aufgeblasen hat, sind erhalten geblieben und werden in Hamburg im Original gezeigt. Der Betrachter erhält so Gelegenheit, ausgehend vom Originalobjekt, Transformations- und Entscheidungsprozesse des Malers nachzuvollziehen.

Eine Art Scharnier der Ausstellung bildet Beckmanns 1927 entstandenes „Großes Fisch-Stillleben“ aus der Sammlung der Hamburger Kunsthalle. Bevorzugte der Maler zuvor oft noch pastellartige, helle Farben, so arrangiert er seine Bildgegenstände jetzt äußerst kontrastreich. Drei farbenfrohe und lebensecht wirkende Fische werden zusammen mit zwei Zitronen, einer italienischen Zeitung und einem gestreiften Tuch in ein Rechteck eingebettet. Gleichzeitig ist auf dem Bild aber auch ein Dreieck erkennbar, an dessen Spitze das tiefschwarze Innere eines großen blauen Trichters den Blick in eine unbestimmbare Tiefe hineinzieht. “Ich bringe es fertig, immer mehr fertig, gänzlich gegenständlich und doch ungegenständlich zu malen”, hatte Beckmann bereits ein Jahr zuvor seine Gratwanderung zwischen konkreter Gegenständlichkeit und abstrakter Formauflösung beschrieben.

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Die Hamburger Ausstellung führt eindrucksvoll vor Augen, dass Stillleben für Beckmann weit mehr waren als hübsche Arrangements. Wie überhaupt in seiner Malerei, ignoriert und durchbricht er auch hier gängige Darstellungskonventionen. Der Raum, seine virtuelle Erweiterung im Spiegelbild, die Landschaft, Personen und unbestimmbare Schattenwelten. Alles kommt ins Stillleben mit hinein. Beckmann erweist sich auch in seinen Stillleben als virtuoser Meister der Verzahnung verschiedener Realitätsebenen. In den malerischen Fokus rückt er sein Leben im Hier und Jetzt, die wehmütige Erinnerung des Amsterdamer Exilanten an unbeschwerte Tage an der Côte d’Azur, aber auch seine Vorlieben für Philosophie, Mystik, Astronomie und Astrologie. Seine intensive Beschäftigung mit den Alten Meistern und die Suche nach einer neuen, modernen, und ganz eigenständigen Bildsprache jenseits aller ihn umgebenden Schulen und Stile wie Expressionismus, Neue Sachlichkeit oder Kubismus trieb Beckmann, wie jetzt in der klug zusammengestellten Hamburger Ausstellung zu besichtigen ist, auch in seinen Stillleben permanent an.

  • Ausstellung: Max Beckmann. Die Stillleben
  • Ort: Hamburger Kunsthalle
  • Zeit: 5. September 2014 bis 18. Januar 2015
  • Katalog: Prestel Verlag, 200 S., 142 Farbabb., 42 s/w Abb., 29 Euro (Museum), 49,95 Euro (Buchhandel)
  • Internet

Fotos von oben nach unten:

Großes Fisch-Stillleben, 1927, Öl auf Leinwand, 96 x 140,5 cm, Hamburger Kunsthalle.
(VG Bild-Kunst)

Stillleben mit Fisch und Muschel, 1942, Öl auf Leinwand, 95 x 70 cm, Privatsammlung.
(VG Bild-Kunst)

Stillleben mit großer Muschel, 1939, Öl auf Leinwand, 50 x 81 cm, The Baltimore Museum of Art.
(VG Bild-Kunst)

Spannender Thriller mit viel Romantik

14. Deutsches Kinofestival wurde mit Christian Alvarts “Banklady” eröffnet

Von Susanne Franz

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Das 14. “Festival de Cine Alemán” wurde am Donnerstagabend mit dem spannenden Thriller “Banklady” eröffnet. Regisseur Christian Alvart hat diese turbulente wahre Geschichte von Gisela Werler, der ersten Bankräuberin Deutschlands, gekonnt auf die Leinwand gebracht. Von Anfang bis Ende hält der Thriller den Zuschauer in Atem, und doch ist auch ein gehöriger Schuss Romantik dabei, denn die “Banklady” wurde aus Liebe zur Gangsterin.

Alvart ist der diesjährige Ehrengast des Filmfestivals. Der deutsche Regiestar hat internationale Erfolge vorzuweisen wie den Science-Fiction-Film “Pandorum” mit Dennis Quaid und den Horrorstreifen “Case 39” mit Renée Zellweger, aber deutsche Filmliebhaber bewundern ihn besonders als Tatort-Regisseur, der für die Folgen mit Til Schweiger verantwortlich ist – ab nächste Woche steht Alvart für den nächsten Til Schweiger-Tatort hinter der Kamera. Auch die gefeierten “Borowski”-Folgen “Der coole Hund” und “Der stille Gast” sind von Alvart.

Bei der Pressekonferenz am Dienstagvormittag merkte man Christian Alvart nicht an, dass er erst am Morgen bei Gewitter und Hagel am Flughafen angekommen war. Zunächst wurde der Film den zahlreich erschienenen argentinischen Kritikern vorgeführt, im Anschluss begrüßte Gustav Wilhelmi als German Films-Chef in Buenos Aires die Anwesenden und machte Geschmack auf die Festival-Filme, die bis zum 17. September zu sehen sein werden.

Michael Kratz, Kulturreferent der Deutschen Botschaft in Buenos Aires, hob besonders die Berlin-Filme hervor, während Uwe Mohr, der neue Direktor des Goethe-Instituts Buenos Aires, auf den Stummfilm mit Livemusik verwies, der wie jedes Jahr als Höhepunkt des Festivals mit Unterstützung des Kulturinstituts gezeigt wird. Der neue Goethe-Chef, der erst seit sieben Wochen in Argentinien ist, sagte, dass er sich im übrigen auch sehr auf die Filme freue, von denen er viele noch nicht kenne.

Dann war die Reihe an Christian Alvart. Im folgenden die Fragen verschiedener Kritiker an den Regisseur und Alvarts Antworten:

Frage: Haben die Recherchen zu dem Film sehr lange gedauert und ist der Fall der “Banklady” ein allgemein bekannter Fall in Deutschland?

Christian Alvart: “Ja, das hat tatsächlich ‘ne ganze Weile gedauert, allerdings nicht, weil sie so stark anerkannt ist, sondern im Gegenteil… Es gibt zwei Dokumentationen über diesen Fall, die die Hauptdarstellerin (Anm.d.Red.: Nadeshda Brennicke) gesehen hat und zu mir gebracht hat (…) und sie hat mich mit dieser realen Geschichte begeistert, weil ich mir vorher gar nicht vorstellen konnte, dass es bei uns so ‘ne Story gab. Wir kennen sozusagen die amerikanischen Vorbilder schon besser als die eigene Geschichte, und deswegen fand ich das sehr spannend, vor allem, weil auch die Zeit, in der das spielt (Anm.d.Red.: die 60er-Jahre), ein bisschen übersehen ist im deutschen Kino, also wir haben sehr viel, hm, sag ich mal, Zweiter-Weltkrieg-Geschichten – jetzt kam in letzter Zeit ein bisschen Erster Weltkrieg dazu -, dann sehr viel direkt danach (Anm. d.Red.: der Regisseur bezieht sich auf direkt nach den 60er-Jahren) mit der RAF, und genau dazwischen ist diese kleine übersehene Lücke, und das hat mich sehr interessiert.

Zu den Recherchen: Also wir haben uns die Original-Krimi-Akten angesehen, wir haben die Waffen gesehen, wir haben die Perücken gesehen, wir haben also sehr sehr sehr viel von dem Originalfall gesehen und auch alles original in den Film eingebaut.”

Frage: Wenn man das Bild der echten “Banklady” Gisela Werler im Abspann betrachtet, drängt sich die Frage auf, warum die Darstellerinnen solcher Figuren immer so viel besser aussehen als ihre Vorbilder.

alvartChristian Alvart: “Sie sieht nun mal so aus, wie sie aussieht (Anm.d.Red.: der Regisseur spricht von der Schauspielerin Nadeshda Brennicke). Wir haben ein bisschen versucht, sie “runterzurocken”, wie wir das genannt haben – ihr ‘nen schrägen Haarschnitt verpasst, ihr ‘ne Nasenprothese verpasst und so weiter – sie sieht normalerweise noch wesentlich schöner aus als in dem Film (Lacher im Saal). Hm, es ist so, die “Banklady” ist ja ‘ne Geschichte von einer Frau, die feststellt, dass sie plötzlich Glamour erlebt und so ein bisschen einen Hollywood-Traum lebt, also sie wird ja – in ihrer Phantasie und auch in der Phantasie der damaligen Massenmedien – so sehr überstilisiert und als sehr sexy empfunden. Deswegen ist es eigentlich eine Geschichte von zwei Frauen: einmal von der Gisela Werler und einmal von der “Banklady”. Und wir haben halt die “Banklady” besetzt und die Gisela Werler geschminkt. Wir hätten es auch andersherum machen können.”

Frage: War die “Banklady” wirklich die erste Bankräuberin Deutschlands und war das nicht ein ziemlich sexistisches Bild, das die Öffentlichkeit von ihr hatte?

Christian Alvart: “Also es ist schon so gewesen wie wir das im Film gezeigt haben. Es war wirklich historisch die erste Bankräuberin Deutschlands. Da es keine Fotos von ihr gab und keine Bilder, waren diese Karikaturen von ihr, die man auch im Film sieht, sozusagen der Vorstellungskraft der Karikaturisten geschuldet, und da war das ‘ne sehr sexy Bankräuberin. Und darum hat es sich auch gedreht dann im öffentlichen Diskurs. Aus heutiger Sicht ist das natürlich auch was sehr Sexistisches, dass wenn eine Frau so etwas macht, es plötzlich nur um ihre Beine geht und um ihre Outfits, und aus damaliger Sicht wurde sie tatsächlich bewundert für ihren Mut und ihren Glamour und ihren Style.

Es gibt ein Zitat von einem Polizisten aus einem Artikel aus der Zeit, bevor sie geschnappt wurde – der Polizeidirektor Hamburgs war es, glaube ich -, wo der sagte, er verstehe gar nicht, dass eine Frau eine Bank überfällt, ihr stehe doch der Weg der Prostitution offen, der wär‘ doch viel einfacher (schnaubt verächtlich). Und so war damals diese sehr herablassende Art, und ich glaube, da hat sie schon ein paar Mauern eingerissen, und dafür ist sie auch bewundert worden. Es gibt ganz viele natürlich, gerade die Leute, die sie überfallen hat – das sind ja rechtschaffene Menschen -, die sie auch ganz schlimm fanden.”

Frage: Ist das realistisch, wie die Polizei dieser Zeit dargestellt wird, und war es wirklich so einfach, eine Bank zu überfallen?

Christian Alvart: “Während die zwei Hauptfiguren bis ins kleinste Detail, sogar die genaue Wortwahl, die sich in den Polizeiakten findet, oder jeder Handgriff, den es auch in den Dokumentationen gibt, sehr sehr genau und sehr realistisch dargestellt wurden, ist bei der Polizei einfach die Sache, das waren natürlich viele Protagonisten, die diese Banklady gejagt haben, verteilt auf alle möglichen kleinen Ortschaften, und das hätte jetzt den Rahmen gesprengt, deswegen haben wir da fiktive Polizisten zusammengefasst. Es gibt diesen Chef, der von Heinz Hönig gespielt wird, der für die eine alte Schule steht, wie man Verbrecher dingfest macht – die gab‘s auch wirklich, diese Ansichten – , – der steht auch ein bisschen für den Polizeichef, den ich gerade zitiert habe -, und der Fischer steht halt für die neue Strömung der modernen Polizeiarbeit, die dann auch genau in der Zeit stattfand. Das heißt, am Anfang, als die die Banken überfallen haben, gab‘s noch nicht mal eine direkte Alarmverbindung zur Polizei, am Ende war das dann tatsächlich üblich.

Es sind sogenannte ‘composite characters‘, diese Charaktere bei der Polizei. (…) Die Polizisten sprechen auch in den Dokumentationen, und da kommt die Inspiration so ein bisschen her, es gab da einen Polizisten, der hat so begeistert von der Banklady gesprochen, da dachte ich, na, ob der nicht ein bisschen zu begeistert ist, und das war mein Haupteinfluss für den Kommissar Fischer.”

Frage: War es schwer, Originalmaterial aus der Zeit zu finden?

Christian Alvart: “Also das fühlt sich verdammt nah an, die Sechzigerjahre, aber wenn man sie sucht, sind sie schon ganz schön weit weg, und es war tatsächlich sehr schwierig, auch nur noch Architektur zu finden, wo man das spielen lassen kann – also Hamburg sieht heute nicht mehr so aus -, das heißt wir sind (…) in die Grenzregionen – wo früher die Grenze zwischen Ost und West verlief – in Orte gegangen, die noch nicht so totrenoviert sind – also für unseren Film und das, was wir gesucht haben -, und haben dann Hamburg dargestellt, ab und an haben wir auch Geld ausgegeben und Computer verwendet (lacht). Aber es war schon eine kleine Schatzsuche und wir haben tatsächlich, als wir den Film eingereicht haben und Förderer gesucht haben, schon so einen Fotoband mit Orten produziert, einfach um zu zeigen, dass das überhaupt noch geht, dass das darstellbar ist.

Bei den Zeitungen muss ich sagen, der Karikaturist, den man im Film sieht, der da zeichnet, dieser ältere Herr, das ist der, der die erste Zeichnung gemacht hat damals, vor 50 Jahren, und da waren wir sehr stolz, dass wir den noch gefunden haben, und dass er für uns wieder zum Stift gegriffen hat.

Was die Zeitungsartikel angeht, haben wir nicht uns die ganzen Rechte leisten können, das heißt, es ist eine Mischung aus echten Zeitungen, die mit uns zusammengearbeitet haben, und fiktiven Zeitungen, die dann so ähnlich heißen (lacht).

Bei den Waffen haben wir mit dem Polizeimuseum zusammengearbeitet, die hatten ‘ne Ausstellung zu dem Fall, und wir haben alle Waffen 1:1 nachgebaut.”

Frage: Ist “Banklady” schon in Deutschland in den Kinos gelaufen, war er auf Festivals? Wie war die Reaktion auf den Film?

Christian Alvart: “Also in Deutschland ist der Film schon gelaufen, wir haben auf Festivals wie zum Beispiel dem Filmfest Hamburg viele enthusiastische Reaktionen gehabt, wir haben auch ganz tolle Kritiken bekommen. Bei der ganz normalen Kinoauswertung ist er leider untergegangen, das muss man so sagen, also er ist nicht besonders gut gelaufen, und was internationale Festivals angeht, sind wir gerade auf der Reise, deswegen bin ich ja auch hier. Er läuft auf der ganzen Welt, ich denke mal, wir sind ungefähr in der Hälfte der Länder, wo er laufen wird. (…) Ich selber hab‘ leider dieses Jahr so viel gedreht, dass ich das erste Mal selber mit dem Film mitgereist bin, sonst war Nadeshda immer vor Ort.”

Frage: Hat die Kinoproduktion im Zuge der europäischen Krise auch in Deutschland gelitten?

Christian Alvart: “Ich hab‘ nicht den Eindruck, dass mehr oder weniger gedreht wird als in den Jahren zuvor. In Deutschland ist das immer schon sehr stark abhängig von Einzelpersonen gewesen: Sagen wir mal Bernd Eichinger, Til Schweiger oder jetzt Matthias Schweighöfer, wenn die ‘nen Film machen, dann ist das deutsche Kino groß, und wenn die ein Jahr Pause machen, dann ist es klein.” (Lacher im Saal)

Fotos von oben nach unten:

Auf der Pressekonferenz (v.l.): Michael Kratz, Kulturreferent der Deutschen Botschaft in Buenos Aires, Gustav Wilhelmi, German Films-Chef vor Ort, Uwe Mphr, Direktor des Goethe-Instituts Buenos Aires, Christian Alvart und seine Übersetzerin.

Christian Alvart amüsiert sich über eine Frage.
(Fotos: Festival de Cine Alemán)

Drei Brüder mit außergewöhnlichem Talent

Ein Überblick über das Werk der Brüder Ortiz Echagüe im Museum Fernandez Blanco

Von Philip Norten


Ende Juli wurde der Palacio Noel, Hauptsitz des Museo Fernández Blanco (MIFB) in Retiro, nach mehrmonatigen Renovierungsarbeiten wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Neben neu eingerichteten Sammlungsräumen ist vor allem die Sonderausstellung “La Luz, el Color y la Palabra” über das Werk der drei Brüder Ortiz Echagüe sehenswert.

Zu Beginn der Ausstellungskonzeption stand zunächst nur der international bekannteste der drei Brüder, José, im Mittelpunkt des Interesses der Kuratoren. José Ortiz Echagüe (*1886 in Guadalajara, Spanien) hat nicht nur einen großen Namen als Ingenieur, Auto- und Flugzeugpionier, sondern auch als Fotograf. Schon zu Lebzeiten wurde er als einer der bedeutendsten Fotografen Spaniens anerkannt. Er gilt dabei als ein Hauptvertreter des sogenannten Piktoralismus, eine Fotografiegattung, deren zentrales Anliegen es war, das damals noch neue Medium der Fotografie künstlerisch aufzuwerten. So wurden erstmals Kriterien wie Komposition und persönlicher Ausdruck aus der Malerei übernommen und auch in der Fotografie zu einem bedeutenden Faktor.

José Ortiz Echagüe schuf seine “malerischen” Fotos, indem er das Fotopapier für seine Aufnahmen im Entwicklungsprozess bearbeitete und so Effekte erreichte, die stark an Malerei erinnern, z.B. die “weichgezeichneten” fast impressionistischen Hintergründe seiner Fotos. Zudem verwendete er Zeit seines Lebens Fresson-Fotopapier, das seinen Aufnahmen einen besonderen Farbstich verlieh.

Inhaltlich sind seine Arbeiten als Reportage- und Dokumentarfotografie zu verorten. Seine Motive fand er sowohl im ländlichen Spanien mit seinen historischen Landschaften und folkloristischen Bräuchen, als auch auf seinen zahlreichen Reisen wie z.B. in Marokko, wo Bilder entstanden, die stark mit der Tradition der Orientreisen europäischer Künstler des 19. Jahrhunderts verbunden sind.

Seine Reise- und Abenteuerlust brachte José auch nach Argentinien, wo er besonders in den Kreisen der spanischen Gemeinschaft verkehrte, aber auch Bekanntschaft mit Jorge Newbery machte, mit dem er seine Leidenschaft fürs Fliegen teilte. Das größte Konvolut seiner Fotografien besitzt heute die Universidad de Navarra, und gerade diese große Distanz und der fragile Zustand der Fotoabzüge machten einen Transport nach Buenos Aires schließlich unmöglich und stellten die Kuratoren vor die Herausforderung, die Ausstellung neu zu konzipieren.

Bei ihren vorbereitenden Recherchen stießen sie auf Josés Bruder Antonio (*1883, Guadalajara), der seinem Bruder in künstlerischer Begabung und Reiselust in nichts nachstand. Antonio absolvierte eine traditionelle Malereiausbildung an der Academie Julien und an der Kunstakademie in Paris und schloss seine Ausbildung mit einem längeren Romaufenthalt ab. Er blieb den Grundlagen seiner Akademieausbildung treu und experimentierte nie mit avantgardistischen Ideen, die die Kunst der Zeit bestimmten. Vielmehr erinnert sein Malstil an die französischen Maler der frühen Moderne, wie z.B. Manet, der in seinen Gemälden die Schattenwirkung zugunsten einer größeren Flächigkeit reduzierte. Ortiz Echagüe machte sich früh einen Namen und war besonders als Porträtmaler auch wirtschaftlich erfolgreich, was u.a. ein offizielles Porträt für den spanischen König Alfonso XIII. beweist.

Nach Argentinien verschlug es ihn über Umwege: der Vater seiner niederländischen Frau Elizabeth Smidt war der Gründer der Banco Holandés Unido in Buenos Aires und errichtete auch das Landgut “La Holanda” auf einem 20.000 Hektar großen Grundstück in der Provinz La Pampa. Zunehmend unzufrieden mit der politischen und wirtschaftlichen Situation in Spanien, ließ er sich in den 1930er Jahren endgültig in Argentinien nieder, wo er 1942 auch starb. 1998 wurde ein Teil des Landgutes zu einem Museum umgewandelt, in dem Gemälde von Antonio Ortiz Echagüe ausgestellt werden. Zahlreiche dieser Werke traten nun für die Ausstellung im Museo Fernandez Blanco die Reise nach Buenos Aires an. Und auch die ausgestellten Fotografien von José stammen aus der Sammlung dieses Museums.


Ähnlich wie sein Bruder José interessierte sich Antonio für folkloristische Themen, was sich in den Gemälden mit traditionell arabischen Szenen aus Marokko oder bei den niederländischen Motiven zeigt. Sein wichtigstes wirtschaftliches Standbein blieb die Porträtmalerei, die er auch in Argentinien erfolgreich betrieb. Ein immer wiederkehrendes Thema war seine eigene Familie, besonders die Töchter, die er in Gemälden verewigte. Neben der extremen Größe der Formate – fast alle Personen sind in Lebensgröße porträtiert – fallen die Gemälde durch die qualitätsvolle Ausführung bei der Farbgebung und Pinselführung auf.

Schließlich wird auch noch das Leben von von Fernando Ortiz Echagüe beleuchtet. Als Journalist für die angesehene Tageszeitung “La Nación” verbrachte er große Teile seines Lebens in Argentinien und wird heute als einer der wichtigsten Reporter dieser Epoche angesehen. Als Kriegskorrespondent pendelte er oft zwischen Europa und der neuen Welt und ist seinen Brüdern so nicht nur durch Talent, sondern auch seine Reise- und Abenteuerlust verbunden.

Die Ausstellung ist noch bis zum 29. September im Palacio Noel, Museo Fernández Blanco (Suipacha 1422, Buenos Aires) zu sehen.

Fotos von oben nach unten:
Antonio Ortiz Echagüe, “La Casa Amarilla”, Triptychon I, II and III (Detail). Öl auf Leinwand, jeweils 239 x 149 cm. Holland, 1920.
(Collection Echagüe)

José Ortiz Echagüe, “Prayer”, Fotografie auf Fresson-Papier, 29 x 32 cm.
(Collection Echagüe)

José Ortiz Echagüe, “Fisherman”, Fotografie auf Fresson-Papier, 44.8 x 32.5 cm.
(Collection Echagüe)

Antonio Ortiz Echagüe, „Courtesans of Moulay Abdallah“ (Diptychon II). Öl auf Leinwand, 150 x 200 cm. Fez, 1930.
(Collection Echagüe)

Die Pelztasse und andere Metamorphosen

Anlässlich ihres 100. Geburtstages würdigt der Berliner Martin-Gropius-Bau das faszinierende Werk der in Berlin geborenen Schweizer Künstlerin Meret Oppenheim

Von Nicole Büsing & Heiko Klaas


Nackt hinter dem großen Rad einer Druckerpresse stehend kennt sie fast jeder. Man Rays 1933 entstandenes Aktfoto der gerade einmal zwanzigjährigen Meret Oppenheim, entstanden für das surrealistische Avantgarde-Magazin “Minotaure”, gehört zu den Ikonen der Fotografie des frühen 20. Jahrhunderts. Kein gut sortierter Pariser Postkartenständer, an dem das berühmte Motiv nicht erhältlich wäre. Die Aufnahme verfestigte aber auch das Klischeebild einer knabenhaft-androgynen jungen Frau, die den Surrealisten scheinbar in erster Linie als Muse diente. Meret Oppenheims eigenes, mindestens ebenso eigenwilliges Werk aber erfuhr lange Zeit nicht die ihm gebührende Beachtung.

Jetzt, zum 100. Geburtstag der 1913 in Berlin-Charlottenburg geborenen, jedoch in der Schweiz aufgewachsenen Tochter eines Hamburger Arztes und einer aus der Schweiz stammenden Mutter, wird ihr im Berliner Martin-Gropius-Bau erstmals eine große postume Retrospektive in Deutschland gewidmet. Eine späte, aber umso wichtigere Neu- und Wiederentdeckung einer der wohl bedeutendsten und kompromisslosesten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Zu sehen sind Bleistiftzeichnungen, Aquarelle, Gemälde, bearbeitete Objet trouvés und Fotografien, aber auch selbst entworfene Schmuckstücke, Kleider und Bühnenkostüme.

Meret Oppenheims Werk ist heterogen. Sie macht sich quasi alles, was ihr begegnet, auf ebenso experimentelle wie poetische Art und Weise verfügbar. Abstraktion und Figuration lösen einander immer wieder ab. Fundstücke aus der Natur werden mit profanen Alltagsgegenständen zu poetisch aufgeladenen Objekten kombiniert.
Bereits mit 14 Jahren begann sie, beeinflusst durch C.G. Jungs Traumtheorie, ihre Träume aufzuzeichnen. Ihr ganzes Leben lang bilden sie gewissermaßen die “Storyboards” zu ihrem Bildkosmos. Darüber hinaus spielen Fabeln und Mythen, ihre Liebe zur Natur, deren Metamorphosen und Transformationen, ihr von der Basler Fasnacht beeinflusster Hang zur Maskerade sowie literarische Vorlagen eine wichtige Rolle für die Entstehung ihres Werks.

Natürlich darf in solch einer großen Retrospektive auch ihre berühmteste Arbeit, die “Pelztasse”, nicht fehlen. Um sie rankt sich eine schöne Künstler-Anekdote. Angeblich saß Oppenheim mit Picasso und dessen damaliger Geliebter Dora Maar im Pariser Café de Flore, als dieser bemerkte, man könne alles mit Fell überziehen, eben auch eine zufällig auf dem Tisch stehende Tasse. Meret Oppenheim zögerte nicht lange. Sie tat es einfach. Sie überzog Tasse, Untertasse und Teelöffel mit dem edlen Fell einer chinesischen Gazelle und schuf so ein surrealistisches Objekt par excellence: dem ursprünglichen Konsumzusammenhang entzogen, animalisch und gleichzeitig sexuell aufgeladen, zum Berühren einladend und gleichzeitig abweisend.

1936, in einer Ausstellung surrealistischer Objektkunst, fiel die auch unter dem Titel “Le déjeuner en fourrure” (Frühstück im Pelz) in die Kunstgeschichte eingegangene Tasse keinem Geringeren als Alfred H. Barr ins Auge, der sie für das Museum of Modern Art in New York erwarb und so unsterblich machte. Für Meret Oppenheim allerdings folgte eine schwere Zeit der Krisen und Existenzängste. Als Jüdin unmittelbar gefährdet, verließ sie Paris und zog sich in die sichere Schweiz zurück. Erst 1967 gelang ihr mit einer großen Retrospektive im Stockholmer Moderna Museet der internationale Durchbruch. Ausstellungen in der Schweiz und Frankreich sowie ihre Teilnahme an der Documenta 7 in Kassel festigen in der Zeit danach ihren Ruhm.


Am 15. November 1985 stirbt Meret Oppenheim im Alter von 72 Jahren in Basel. Freunden hatte sie am 6. Oktober, ihrem 72. Geburtstag, prophezeit, sie sterbe noch, ehe der erste Schnee falle. Einer ihrer Träume hatte sie auch dieses Mal wieder eingeholt. Im Alter von 36 Jahren nämlich hatte sie, wie sie schriftlich festhielt, von einer Heiligenstatue geträumt, die eine Sanduhr mit der ihr bemessenen Lebenszeit umdreht. Daraus schloss sie, dass nun die Hälfte ihres Lebens vorbei war. Sie sollte Recht behalten.

  • Ausstellung: Meret Oppenheim. Retrospektive
  • Ort: Martin-Gropius-Bau, Berlin
  • Zeit: 16. August bis 11. Dezember 2013
  • Mi-Mo 10-19 Uhr. Di geschlossen
  • Katalog: Hatje Cantz Verlag, 312 S., 264 Abb., 25 Euro (Museum), 39,80 Euro (Buchhandel)
  • Internet

Fotos von oben nach unten:
Meret Oppenheim by Man Ray, Erotique voilée-Serie, Paris 1933.
(Man Ray Trust, Paris)

Meret Oppenheim, “Eichhörnchen”, 1969. Privatsammlung, Montagnola.
(Peter Lauri)

M.O. mit Sechs Wolken auf einer Brücke, 1977, Bern 1982.
(Margrit Baumann)

Buenos Aires punktet

Werke der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama zum ersten Mal in Lateinamerika

Von Carlo-Johannes Schmid


Nur ein Punkt unter vielen – so fühlt man sich, wenn man dieser Tage in der langen Schlange steht, die seit dem 29. Juni fast täglich vor dem Malba – Museum für Lateinamerikanische Kunst in Buenos Aires zu sehen ist. Am Abend der Eröffnung reichte die Menschenkette gar um den kompletten Block, und das Museum musste wegen des großen Andrangs seine Öffnungszeit bis 1 Uhr morgens verlängern.

Der Grund des Ansturms kündigt sich schon rund um das Museum an. Entlang der Avenida Figueroa Alcorta sind einige Bäume und Bushaltestellen in ein rotes Gewand mit weißen Flecken gehüllt. Die Punkte oder “Polka Dots” sind das Markenzeichen der bedeutendsten zeitgenössischen Künstlerin Japans: Yayoi Kusama, die mit “Yayoi Kusama. Obsesión infinita” ihre erste Retrospektive in Lateinamerika präsentiert. Noch bis zum 16. September kann man die Werke der Künstlerin im Malba sehen.

“Yayoi Kusama. Obsesión infinita” wurde in Zusammenarbeit mit dem Studio der Künstlerin und dem Malba realisiert und nimmt die Besucher mit auf einen umfassenden Rundgang ihrer Werke zwischen 1950 und 2013. Die Ausstellung beinhaltet die wichtigsten Objekte ihres fast sechs Jahrzehnte andauernden Schaffens. Zu sehen gibt es Gemälde, Werke auf Papier, Skulpturen, Videos, Slideshows und Installationen. Und, natürlich, jede Menge Punkte.

Diese markierten auch den Beginn ihres künstlerischen Schaffens. Als Kind litt Yayoi Kusama unter Halluzinationen und Angstzuständen. Als sie von der weiß gepunkteten Tischdecke in ihrem Elternhaus aufblickte, habe sie gesehen, wie sich das Muster überall ausbreitete: An den Wänden, an ihrem Körper, an der Decke. Damals hätte sie sich gefühlt, als würde sie sich selbst in dem Muster auflösen. Seitdem sollten die “Polka Dots”, wie die Künstlerin selbst die Punkte nennt, Inhalt ihrer Kunst werden und es bis heute bleiben.

Geboren in eine bürgerliche Familie im Jahre 1929 in der japanischen Stadt Matsumoto, war Yayoi Kusamas Kindheit von der strengen Erziehung der Eltern geprägt. Bis sie 1948 an die Kyoto School of Arts and Crafts ging und in den folgenden Jahren neun Ausstellungen hatte. Dadurch gelangte sie zu landesweiter Bekanntheit, die Anerkennung blieb jedoch aus. Erst als es sie 1955 nach New York zog und ihre dort entstandenen Skulpturen und Installationen neben Größen wie Andy Warhol, Claes Oldenburg und George Segal in den frühen 1960er Jahren ausgestellt wurden, gelangte sie zu Berühmtheit, jedoch nicht zu Reichtum. Deshalb kehrte sie nach Japan zurück. Dort ließ sie sich wegen ihrer Angstzustände freiwillig in eine Nervenheilanstalt einliefern, in der sie bis heute lebt und arbeitet.

Heute gilt Yayoi Kusama als bedeutendste lebende Künstlerin Japans. Ihre Werke wurden in den wichtigsten Museen weltweit ausgestellt. Im Rahmen ihrer Lateinamerika-Tour wird die Retrospektive “Yayoi Kusama. Obsesión infinita” dieses Jahr noch in Rio de Janeiro, Brasilia, Sao Paulo und Mexiko-Stadt zu sehen sein.

Zu den Höhepunkten der Ausstellung gehören sicherlich ihre berühmten Werke aus den 50er Jahren sowie die sich durch ihr ganzes Schaffen ziehenden “Infinity Nets” und ihre berühmten phallischen Skulpturen. Um diese zu fertigen, überzog Kusama Möbel und andere Haushaltsgegenstände mit Stoffwülsten. Viele Experten vermuten darin den Versuch der Künstlerin, ihre sexuellen Ängste aufzuarbeiten. Auch eine Sammlung von Skulpturen und Bildern ihrer Happenings und Performances aus der New Yorker Zeit sind zu sehen, genauso wie einige ihrer neuesten Gemälde und Installationen.

Wenn man wieder herauskommt aus dem Bad in den Bällen, ist die Schlange vor dem Malba immer noch nicht kleiner geworden. Fast könnte man sich der Künstlerin dann emotional nah fühlen: Sie beschreibt ihr Leben als einen Punkt von vielen im Universum.

Vom Surrealismus zum Informel

Die Kunsthalle Bremen zeigt eine umfassende Retrospektive zum Werk des 1932 nach Paris emigrierten Deutschen Wols

Von Nicole Büsing & Heiko Klaas


“Wols ist ein furchtbarer Künstler, weil er uns Mühe macht”, sagt der Frankfurter Kunsthistoriker und Wols-Experte Ewald Rathke. “Doch wenn man sich die Mühe macht, hat man ein Vergnügen, und man gewinnt Einsichten.” Erwald Rathke hat zusammen mit Toby Kamps von der Menil Collection in Houston, Texas, zum 100. Geburtstag von Wols eine umfangreiche Retrospektive mit über 200 Werken in der Kunsthalle Bremen zusammengestellt. Es ist die umfangreichste Wols-Präsentation seit 25 Jahren. Gezeigt werden 32 Fotografien, 126 Arbeiten auf Papier, 36 Gemälde, 19 illustrierte Bücher, aber auch der Malkasten und das Banjo des Künstlers.

Frühe Schwarz-Weiß-Fotografien aus den 1930er und 1940er Jahren bilden den Auftakt der sehenswerten Schau. Surreale Arrangements weisen bereits hier in die Richtung, die der 1913 in Berlin als Alfred Otto Wolfgang Schulze geborene Wols einschlagen wird. 1932 verließ er Deutschland und ließ sich in Paris nieder. Hier erlebte er im Kreis der Surrealisten um Max Ernst, Yves Tanguy und Alberto Giacometti seine künstlerische Erweckung. Es entstehen frühe Aquarelle und Federzeichnungen: Traumsequenzen und noch der Realität verhaftete kleine Szenen. “Alles Zeichnen ist von Anfang an eine artifizielle Veranstaltung”, erläutert Kurator Ewald Rathke.

Die chronologisch aufgebaute Bremer Schau hangelt sich nicht, wie so oft bei Wols, entlang seiner tragischen Biografie, die geprägt ist von Aufenthalten in Internierungslagern, Alkoholsucht und dem frühen Tod im Jahr 1951 nach einer Lebensmittelvergiftung. Vielmehr zeichnet die Schau anhand seines künstlerischen Œuvres die Entwicklung vom Surrrealismus zum Informel nach, zur malerischen Abstraktion. “Da wird das Gegenständliche aufgegeben und in Strukturen überführt”, bringt es Ewald Rathke auf den Punkt.

So lässt sich an dem 1947 entstandenen Gemälde “Vert cache rouge” gut erkennen, dass alles, was wie zufällig entstanden aussieht, einer wohlüberlegten Ordnung entspricht. Eine imaginäre Achse teilt das abstrakte Gemälde in eine rechte und eine linke Bildhälfte, unterschiedlich dichte Bewegungsstrukturen geben einen Rhythmus vor. Wols hat mehrere Farbschichten aufgetragen und mit dem Pinselstiel noch ins feuchte Rot geritzt. “Man muss das Bild begreifen als etwas, das keine Realität ist und doch der Realität nahe kommt”, erläutert Ewald Rathke.

Wols’ informelle Bilder thematisieren Leiden und Freude, Verzweiflung, Ängste und erlittene Traumata. Zu seinen Lebzeiten wurde Wols erst spät entdeckt. Der Pariser Galerist René Drouin richtete ihm im Jahr 1947 eine Ausstellung aus. Doch wirklich geschätzt wurde Wols’ prägnantes Werk erst nach seinem Tod. So war er auf den ersten drei Documenta-Ausstellungen vertreten. 1958 wurde er auf der Biennale Venedig ausgestellt.

Wols’ malerisches Œuvre ist schmal geblieben. Die wenigen Gemälde befinden sich in Museen und im Privatbesitz. Die Bremer Schau konnte jetzt 36 Gemälde zusammentragen. Das entspricht fast der Hälfte seines aus insgesamt nur 80 Gemälden bestehendem malerischen Werks.

  • Ausstellung: Wols: Die Retrospektive
  • Ort: Kunsthalle Bremen
  • Zeit: bis 11. August 2013
  • Di 10-21 Uhr, Mi-So 10-17 Uhr
  • Katalog: Hirmer Verlag, 300 S., 165 Farbtafeln, 60 Farbabb., 224 Miniaturabb., 29,00 Euro (Museum), 45,00 Euro (Buchhandel)
  • Internet

Fotos von oben nach unten:

Wols: Deux sous le baldaquin rayé, um 1938/39. Tuschpinsel und Aquarell auf Aquarellpapier, auf Ingres-Bütten aufgezogen, 31,5 x 42 cm. Privatbesitz, Deutschland.
(Joachim Fliegner, Bremen, © VG Bild-Kunst, Bonn 2013)

Wols: Selbstporträt, Paris 1938. Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden.
(© VG Bild-Kunst, Bonn 2013)

Wols: Ohne Titel, 1942/43. Tuschfeder und Aquarell auf Papier, 19,9 x 12,8 cm. Karin und Uwe Hollweg Stiftung, Bremen.
(Joachim Fliegner)